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Die Kolonie
von Manfred Weinland
Erster Teil – Zweiter
Teil
Nelson Doty wußte, daß dies sein letztes Jahr im Col-System
sein würde. Sein letzter Sommer auf Hope.
Es war ein sehr erwachsen gewordenes Lächeln, das sich um seine Mundwinkel
prägte, als er von der Uferböschung aus auf den Blue River hinabstarrte,
mit dem ihn ein auch noch nach vielen Jahren unvergeßliches Erlebnis
verband. An diesem Fluß hatte er einst Abschied von einem Freund
genommen, einem ganz besonderen Freund, mit dem er nie ein Wort hatte
wechseln können, und der ihm doch - damals zumindest - nähergestanden
hatte als die meisten Menschen hier auf dem marsgroßen fünften
Planeten der Doppelsonne.
Noch immer das versonnene, wehmütige Lächeln auf dem Gesicht,
setzte sich Nelson in den weichen Ufersand. Die Landschaft hinter ihm
war immer noch nicht wieder völlig verheilt; Narben würden noch
lange sichtbar bleiben. Narben jenes sinnlosen Vernichtungsfeldzugs, den
die G'Loorn gegen Cattan geführt und dabei die Stadt dem Erdboden
gleich gemacht hatten.
Cattan war die erste menschliche Siedlung auf Hope gewesen - und bis heute
die einzige geblieben. Ein Wiederaufbau nach der Zerstörung durch
die Hybridwesen aus dem Zentrum der Galaxis hatte nicht stattgefunden.
Heute lebten diejenigen, die Hope treugeblieben waren, auf Deluge. Im
dortigen Industriedom, der eine der großen Hinterlassenschaften
der Mysterious war.
Die Mysterious.
Nelson schüttelte beinahe unwillig den Kopf. Alle Welt dachte immer
nur an die Mysterious. Er nicht. Für ihn war jedes Lebewesen wichtig,
ganz gleich, ob es in der Lage war, Beeindruckendes zu leisten oder nur
einfach... da war.
Dong-dong war der beste Freund gewesen, den er je gehabt hatte. Ihm hatte
er intimere Gedanken anvertraut als selbst Goofy, seinem "Menschen-
und Erwachsenenfreund".
Nelson schmunzelte. In seinen Augen funkelte es, als kämpfte er gegen
Tränen an.
So war es auch.
Dong-dong, der Feuerhüpfer, hatte im Kampf gegen die Amphis sein
Leben geopfert - für die Menschen von der Erde. Für die Menschen,
die hier eine neue Heimat gefunden hatten, nachdem der Time-Antrieb ihres
Kolonistenraumers sie in eine seinerzeit unbekannte Region der heimatlichen
Milchstraße versprengt gehabt hatte.
Die Amphis... die Giants... die G'Loorn...
Das alles war Geschichte. Heute schrieb man auf Terra und den Kolonien
das Jahr 2057. Cattans Zerstörung und die Auseinandersetzung mit
den insektenhaften G'Loorn lag rund vier Jahre zurück.
Dong-dongs Tod noch länger, gut sechs Jahre.
Auf Terra, so besagten es die Meldungen, war mittlerweile wieder Frieden
eingekehrt; der Wiederaufbau der von den Giant-Invasoren geknechteten
Heimatwelt war in vollem Gang. Ab und zu flammten noch Konflikte mit Robonen
auf - auch so eine unglaubliche Geschichte...
Nelson merkte, wie seine Gedanken abzuschweifen versuchten, als ertrüge
er es immer noch nicht, den kleinen, possierlichen, rotbeschweiften "Eisenfresser"
Dong-dong verloren zu haben. Von Metall hatte sich der Feuerhüpfer
ernährt. Und am Ende war er im Stromversorgungskreis eines Scoutbootes
umgekommen. Die Energie hatte ihn als "Leiter" mißbraucht.
Und völlig verändert.
Ein bis heute ungeklärtes Phänomen.
Aus dem possierlich anzuschauenden Tierchen war durch eine sehr hohe Stromspannung
ein... Kristall geworden.
Ein blau und rot leuchtendes, stacheliges Gebilde, das so rein gar nichts
mehr mit dem quietschfidelen Freund gemein gehabt hatte, mit dem sich
Nelson damals die Zeit auf Hope vertrieben hatte - ohne gleichaltrige
Freunde unter den Siedlern. Ein Eigenbrötler war er gewesen. Ein
Außenseiter. Nur zu Goofy, dem Scoutboot-Piloten, hatte er ein innigeres
Verhältnis entwickelt. Aber Goofy war damals schon ein "alter"
Mann von dreißig Jahren gewesen, während er noch ein halbes
Kind war.
Goofy... Dong-dong... an seine Eltern hatte Nelson nur noch vage Erinnerungen.
Sie waren in den Wirren der Amphikriege umgekommen, und ihr Verhältnis
war nie das beste gewesen. Sie hatten sich wenig gekümmert um ihren
einzigen Sohn, waren ganz in ihrem Wunschtraum aufgegangen, Terra mit
dem Ziel Dorado im fernen Deneb zu verlassen, eine bessere Existenz zu
gründen...
Aus Dorado war Hope geworden. Die Hoffnung hatte in der Katastrophe geendet.
"Dott?"
Er zuckte leicht zusammen und drehte den Kopf. Aus Richtung des Scoutbootes
näherte sich eine vertraute Gestalt mit Bulldoggengesicht. Ja, Goofy
sah auch heute noch wie die Karikatur eines ewig traurig dreinschauenden
Mannes aus. Was nichts daran änderte, daß Nelson ihn liebgewonnen
hatte. Er war sein bester Freund geblieben. Der einzige, auf den er bedingungslos
baute.
Und umgekehrt war es genauso.
Was sind wir doch für ein ungleiches Paar, dachte Nelson in
mildem Selbstspott.
"Wo bleibst du denn? Wir müssen noch weiter. Komm schon! Du
weißt doch, daß wir längst auf dem Dreizehnten sein müßten..."
Mit "Dreizehnten" meinte Goofy - Ex-Korporal Goof, Waffenexperte
auf der seligen Galaxis - einen der Inselkontinente, von denen es über
ganz Hope verstreut insgesamt einunddreißig gab. Derjenige, auf
dem sie erwartet wurden, hatte von den Kartographen die Ziffer 13 erhalten.
Main Island, wo sich einst Cattan erhoben hatte, war in dieser Rangfolge
mit 1 beziffert.
Nelson hatte Goofy zu dem Abstecher hierher überredet. Auf Kontinent
13 hatten sie auf direktem Weg eigentlich eine Gruppe von Exobiologen
abholen sollen, die eigens von Terra hierher gereist waren, um die Artenvielfalt
Hopes zu katalogisieren. Noch immer war nur ein verschwindend geringer
Teil der planetaren Flora und Fauna bekannt. Die Kontinente 1, 4 und 6
(Deluge) waren weitestgehend erschlossen, die übrigen achtundzwanzig
nur im Grobraster. Von den zahllosen kleineren Inselchen, die sich über
die von einem einzigen gewaltigen Ozean bedeckte Welt verstreuten ganz
zu schweigen. Nelson hatte einmal gelesen, wie lange es auf der Erde gedauert
hatte, bis man dort die letzten weißen Flekken auf der Landkarte
ausgeräumt hatte. Die Menschen hatten schon andere Planeten betreten,
bevor die irdische Tiefsee ihre Wunder preisgegeben hatte. Oder entlegene
Gebirgsregionen. Die Dschungel der Regenwälder. Die Eispanzer der
Arktis...
Wahrscheinlich gab es auch heute noch Dinge, die auf Terra ergründet
werden konnten. Ein Planet behielt immer seine "Restgeheimnisse".
Nelson stand auf, warf einen letzten sentimentalen Blick auf den Fluß
und ging Goofy dann entgegen.
"Schon gut, ich komme ja."
Gemeinsam marschierten sie zu einem von insgesamt vier noch existierenden
Notbooten des ehemaligen Großraumers Galaxis. Die CC4 war nicht
ganz zwanzig Meter lang und maß etwas mehr als zwei Meter im Durchmesser.
Ihre ausfahrbahren Dreieckstragflächen machte diese Boote zu idealen
Lastentransportern für den innerplanetaren Verkehr, obwohl sie auch
raumflugtauglich waren. Dieser Bootstyp vermochte sowohl wie frühere
Düsenflugzeuge zu starten und zu landen als auch im Senkrechtflug
abzuheben. Die Plasmatriebwerke waren variabel schwenkbar. Ein Scoutboot
bot Platz für maximal 45 Passagiere. Auf Kontinent 13 warteten nur
rund zwei Dutzend, aber mit jeder Menge Ausrüstung. Fast die Hälfte
der Sitze war demontiert worden, um alles aufnehmen zu können.
Geschmeidig kletterte Nelson an Bord und setzte sich im Cockpit in den
Ko-Sitz. Goofy nahm neben ihm Platz und startete die Motoren. Die Luke
schloß.
"Und du meinst es ernst mit deinem Vorhaben?" fragte er plötzlich
wie beiläufig, den Blick nicht von seiner Instrumentenkonsole nehmend.
Die Monitore übertrugen den Außenbereich in 360°-Rundumsicht.
Fenster im herkömmlichen Sinn gab es nicht.
"Du meinst, daß ich nach Terra gehen will?" fragte Nelson.
Er blickte Goofy an.
"Terra", schnappte dieser. "Dort wartet niemand auf dich.
Dort kennst du niemanden. Wenn du mich fragst, ist das eine verdammte
Schnapsidee!"
"Du wirst mich doch nicht etwa vermissen?" Nelson hatte zu lange
gegrübelt, um sich von dem gefaßten Entschluß noch einmal
abbringen zu lassen.
Auf Terra wartete vielleicht niemand - aber etwas. Die Zukunft.
Hope hingegen, das war seine feste Überzeugung, würde sich nie
mehr vom Schlag der G'Loorn erholen.
"Vermissen? Dich?" Goofy schüttelte so heftig den
Kopf, daß seine Hängebacken wackelten wie Gelee "Wie kommst
du denn darauf?"
Ein warmes Gefühl breitete sich in Nelsons Magen aus. Er lehnte sich
weit im Pneumositz zurück - bevor ihn der Andruck des mit Vehemenz
starteten Bootes noch tiefer in die Polster trieb.
Goofy verhinderte auf seine Weise, daß Nelson ihm noch mehr Fragen
stellte, die ihn sichtlich in Verlegenheit brachten.
*
Der Flug in einem Scoutboot war nicht mit der Fortbewegung in einem Flash
vergleichbar - in dem Nelson auch schon gereist war. Den Beibooten der
Point of konnte so leicht nichts das Wasser reichen. Sie hätten nur
Sekunden für die Strecke benötigt, welche die CC4 bei vierfacher
Schallgeschwindigkeit immerhin noch in mehr als einer Stunde zurücklegte.
Am späten Mittag, drei Stunden nach dem eigentlich vereinbarten Zeitpunkt,
setzte das Boot auf einer neben dem Lager gerodeten Urwaldfläche
zur Landung an. Saftig braun war die üppige Vegetation des
Inselkontinents. Und die Vielfalt auf den ersten Blick eher eine Armut.
Aber unter dem bräunlichen Blätterdach des Dschungels verbargen
sich Schätze. Die Expedition schien, zumindest einer ersten Einschätzung
des Gruppenleiters zufolge, ein großer Erfolg gewesen zu sein. Insgesamt
dreißig Planetentage hatte das Team hier zugebracht. Etliche Container
waren mit Proben gefüllt. Die vollständige Auswertung würde
auf Terra erfolgen und Monate, vielleicht Jahre in Anspruch nehmen.
Nelson hatte sich beim Herflug vor einem Monat mit einer jungen Biologin
angefreundet. Auf das Wiedersehen freute er sich schon jetzt - was ihn
aber nicht vom Besuch des Blue River abgehalten hatte.
Manchmal überkam ihn einfach die Sehnsucht nach den Stätten
der verlorenen Kindheit.
"Versuche es noch einmal", sagte Goofy.
Nelson gehorchte. Aber auch diesmal meldete sich das Lager nicht auf der
üblichen Frequenz. Niemand reagierte auf das Bemühen der CC4-Besatzung,
eine Verbindung herzustellen. Der letzte Kontakt hatte am frühen
Morgen stattgefunden, als man sich vom Camp aus bei Goofy "versichert"
hatte, daß die gebuchte Abholung pünktlich über die Bühne
gehen würde.
Goofy hatte sich während des Flugs von Main Island hierher eine passable
Ausrede zurechtgelegt: Triebwerksschaden. Notwendiger Zwischenstopp auf
Kontinent 4, zeitaufwendige Reparatur. das Übliche eben.
Eine kleine Unwahrheit machte ihm nichts aus. Nelson auch nicht. Für
ihn fiel dies unter die Kategorie Notlüge.
"Das gefällt mir nicht..."
"Unsere Geräte arbeiten einwandfrei?" fragte Goofy.
"Tadellos."
"Dann ist deren Kommunikation ausgefallen."
Nelson nickte. Das Gesicht der Biologin, die es ihm ein klein wenig angetan
hatte, stieg vor seinem inneren Auge auf. In den letzten Wochen war sie
ab und zu durch seine Träume gegeistert. "Ich habe ein ganz
blödes Gefühl."
"Das Gefühl kenne ich. Es nennt sich Liebe. Mann..." Goofy
holte mit seiner Pranke aus und schlug Nelson damit auf die linke Schulter,
"... meinst du, ich hätte nicht gemerkt, was mit dir los
ist? Und wie du sie angesehen hast?"
"Wen?"
Goofy lachte bellend auf und zog die Hand wieder zurück. "Schon
gut. Wir sind gleich da. Und diesmal läßt du dir die Gelegenheit
nicht noch mal entgehen. Der Rückflug nach Terra ist erst für
übermorgen abend gebucht. Bis dahin kannst du herausfinden, ob du,
wenn du selbst in ein paar Monaten den Abflug machst, schon mal eine Anlaufadresse
auf der guten alten Erde hast..."
"Du bist unmöglich!"
"Genau." Goofy schnitt eine Grimasse, bei der seine Himmelfahrtsnase
fast die Stirn berührte. "Unmöglich. Aber nicht bescheuert."
Die CC4 setzte in einer Wolke aus aufgewirbeltem Staub und Grashalmen
auf.
*
Im ersten Moment erweckte das Lager im weißen Licht des Doppelgestirns
den Anschein völliger Verlassenheit. Der Wind verursachte weinerliche
Geräusche in den Blättern der umliegenden Bäume, bog Gräser
und Büsche - sonst war es totenstill.
Diese unwirkliche Atmosphäre erinnerte Nelson unwillkürlich
an Fliegen.
Auf Hope gab es keine; auch nichts Vergleichbares. Aber im Hinterkopf
trug er immer noch Bilder von Fliegen mit sich herum, die sich in Schwärmen
auf Tierkot oder Kadavern niedergelassen hatten - reale Bilder, mit denen
er als Kind auf der Erde selbst ab und zu konfrontiert worden war.
Später hatte er Aufnahmen von den Greueln der Giant-Besatzungszeit
gesehen: Berge von Leichen (keine Tierkadaver, Menschen!), auf denen sich
Heerscharen von Fliegen niedergelassen hatten. Die Bewohner Terras waren
unter dem Einfluß der willenslähmenden Strahlung der Giants
zu Millionen verhungert... Heute schien es wie ein Wunder, daß sich
die Zivilisation von diesem Hammerschlag wieder erholt hatte.
Die Fliegen gingen ihm nicht aus dem Sinn, während er auf das kreisrund
angelegte Camp zulief. Schulter an Schulter mit Goofy, der seine Nervosität
auch nicht mehr verbarg. Er hatte sogar den Paraschocker aus dem Cockpit
mitgenommen.
Nelson haßte Waffen. Aber manchmal waren sie nötig.
Manchmal.
Normal wäre es gewesen, wenn ihnen jemand entgegengelaufen wäre.
Die Wissenschaftler hatten vier Wochen unter freiwilliger Isolation zur
Außenwelt gelebt. Und die - wenn auch verspätete - Ankunft
des Scoutboots war unüberhörbar gewesen...
Niemand kam.
"Vielleicht solltest du zurück an Bord gehen", sagte Goofy
und bleckte die zu groß geratenen oberen Schneidezähne. "Als
Rückversicherung."
Nelson schüttelte entschieden den Kopf. "Kommt nicht in Frage."
Das Camp war umzäunt. Aber unsichtbar. Ein mit einigem Kraftaufwand
überwindbares, mannshohes Prallfeld sollte ungebetene Besucher irritieren
und in die Flucht jagen.
Aber es existierte nicht mehr, wie Nelson und Goofy feststellten, als
sie ungehindert durch die Lücke zwischen zwei Plastikunterkünften
bereits auf den "Innenhof" des Lagers traten.
Sekunden später fanden sie den ersten Wissenschaftler.
Und eine Erklärung für das Schweigen.
Weiter mit Teil 2
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